| | Eindrücke einer eindrücklichen Zeit
Reisebericht zum Bildungsurlaub in Lateinamerika
von Susanna und Werni Schneebeli vom März bis August 2007
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Ein herzliches Dankeschön allen, die mit uns feiern konnten und so zum
Gelingen des Festes beigetragen haben. Dieses Fest hat uns das Loslassen
zugleich erleichtert und erschwert.
Am 1. März 2007 mahnt uns der Wecker aufzustehen und die letzten Sachen
einzupacken und um 7.15 Uhr fahren wir mit dem Auto los. Unsre drei
Kinder begleiten uns an den Flughafen. Viel Verkehr bringt unsre Nerven noch
etwas mehr ins kribbeln, aber schliesslich klappt fasst alles reibungslos. Vor
dem Einsteigen werde ich noch auf die Seite genommen, um den grossen Koffer zu
öffnen. Die zwei Kilo Blei für das Schnorcheln haben Verdacht erregt. Wir
checken ein und fliegen mit der holländischen Fluggesellschaft KLM nach
Amsterdam. Wir haben keine Zeit die Stadt anzusehen. Auf dem Flughafen essen wir etwas
kleines, um dann ein zweites Mal das Handgepäck durch die Kontrollen zu
schicken. Dieses Mal muss ich auch die Schuhe ausziehen und werde vom
Sicherheitspersonal abgetastet. Und dann folgt die nicht enden wollende
Überquerung des Atlantik. Mit der Boeing 767 der Martinair starten wir um 14.00
Uhr und kommen bereits um 18.00 Uhr in Orlando an, wobei zu beachten ist, dass
es bei uns zuhause zur gleichen Zeit Mitternacht war. Um etwa 100 Meter Boden der USA zu überqueren müssen wir die ganze Prozedur
der Einreise in die Vereinigten Staaten über uns ergehen lassen. Stundenlanges
anstehen ist angesagt, nur um zwei Fingerabdrücke und ein Irisbild elektronisch
zu erfassen. Kaum willkommen geheissen verabschieden wir uns etwas grollend und
schon ziemlich müde, um ein letztes Mal abzuheben und die letzten Kilometer nach
San Jose zu fliegen. Nach der vierten Durchleuchtung des Gepäcks schnappt uns um 23.00 Uhr ein
Taxifahrer und bringt uns zum Hotel. Das war vermutlich der risikoreichste Teil
unserer Reise. Müder nach dem 19 Stundentag gehen wir schlafen, im wissen, dass
bei uns zuhause schon wieder ein neuer Tag beginnt.
Wir sind also gut in Costa Rica angekommen. Schon in den ersten Tagen erleben
wir alle Seiten dieses schönen Landes. Sehr freundliche Menschen, sehr arme
Menschen, fröhliche Kinder und kl eine und grössere Diebe. Die Stadt San Jose
beherbergt eine Million der sieben Millionen Einwohner und erstickt im Verkehr.
Die Regierung setzt auf den Tourismus und schützt daher grosse Teile des
Landes. Wir konnten in den Schlund des Vulkans Poas schauen, einen
Regenwald mit Wasserfällen, Schmetterlingen, Kolibris und Fröschen
durchwandern und auf dem Rio Sarapiqui mit einem Boot Vögel, Affen und
Krokodile beobachten. Überall gibt es besonders guten Kaffee. Das kleine Land
setzt auf Qualität und nicht auf Quantität.
Wieder wird gepackt. Koffer und Rucksack vollgestopft bringt uns ein Taxi vom
Hotel zur Busstation Musoc. Der Bus ist voll. Die Sitzplätze auf dem Billett
festgehalten. Susanna sitzt nichts ahnend auf den erst besten freien Platz, bis der
rechtmässige Besitzer dieses Platzes sie darauf aufmerksam macht, dass sie auf
seinem Platz sitzt. Schliesslich finden wir die richtigen Sitze und fahren
los. Drei Stunden mit einer WC Pause dauert die Fahrt von San Jose nach San
Isidro. Wie schon am Flughafen packt uns gleich ein Taxifahrer. Wir verhandeln
kurz den Preis und schon sitzen wir in einer Blechkiste, deren Kofferraumdeckel
sich ständig von selbst öffnet. Eine knappe Stunde dauert die Fahrt nach
Dominical und dann findet der Taxifahrer die Adresse der Gastfamilie nicht. Nach
einigem herumfragen landen wir schliesslich in den herzlichen und mütterlichen
Händen von Hannya Arguello Bejarano. Sie ist ganz Mutter (neun Kinder) und
Hausfrau. In ihrem kleinen Häuschen zeigt sie uns unser Zimmer und wir schämen
uns ein wenig über unsre grossen Koffer und prallvollen Rucksäcke. Schnell wird
in der Nachbarschaft bekannt, dass die zwei Schweizer nun da sind. Im Haus einer
Tochter von Hannya wird gerade ein Geburtstagsfest für Chris, einen
befreundeten Amerikaner, gefeiert. Wir sind eingeladen. Die ganze Familie
ist da mit Kindern und Enkelkindern ausserdem vier befreundete Schweizerinnen
und eine Spanischschülerin, ebenfalls aus der Schweiz. Eigentlich sind
Schweizer eher selten hier, aber wir geniessen die Plaudereien in vertrauter
Sprache und erfahren schon einiges über die Herzlichkeit und
Familienbezogenheit unserer Gastgeberin. Kaum angekommen sind wir mitten im
Geschehen drin und Beziehungen sind geknüpft. Von den 9 Kindern leben noch zwei
bei der Mutter im selben kleinen Haus zusammen mit uns und anderen Hühnern,
Evelyn ist 15 Jahre alt und Omer 10.
Am frühen Morgen, es ist noch nicht 5 Uhr, werden wir von einem
Konzert erster Güte heimgesucht. Vögel zwitschern in allen Tonlagen und sicher
100 Hähne schreien um die Wette. Dazwischen erschrickt uns das Gebrüll einiger
Brüllaffen. So sind wir bereits vor sieben Uhr auf und unter der kalten Dusche
wird auch noch der letzte Schlaf weg gespült. Hannya macht uns ein gutes
Morgenessen mit Rühreiern, Toast und frischen Früchten. Omer zeigt uns,
wie wir von den Bäumen hinter dem Haus eine uns unbekannte Frucht mit
Steinwürfen herunterholen und geniessen können. Die Frucht sieht aus wie
Erbsen und nur das süsse Fruchtfleisch um die erbsengrossen Böhnchen kann man
abknabbern.
Dann geht es los zum ersten Schulmorgen. Nach einem kleinen Wortwechsel
werden wir in eine Klasse eingeteilt und gleich recht gefordert. Mit zwei
Amerikanern machen wir erste Schritte und sind froh, um alles, was wir schon
gelernt haben. Unsre Lehrerin, Merilyn, ist gerade 22 Jahre jung und voll begeistert bei der Arbeit. Bei 30 Grad
im Schatten benötigt die Konzentration viel Energie, aber wir haben den Morgen
genossen und sind nun auch informiert, über alle Möglichkeiten, die wir neben
dem Lernprogramm noch haben. Auch der zweite Morgen in der Schule ist sehr intensiv. Wir müssen lernen poco a
poco weiterzukommen, ohne schon in den ersten Tagen alles können zu wollen.
Marilyn ist eine gute Lehrerin und sie gibt sich viel Mühe, uns zu helfen, ohne
dass sie ein Wort deutsch spricht.
Und so füllen sich die Tage hier in Dominicalito. Am Morgen gehen wir 3 x
1,5 Stunden in die Schule. Dann essen wir in einem Restaurant einen kleinen Snack.
Am Nachmittag machen wir kleine organisierte Events von der Schule, wie
Spaziergänge durch den Regenwald, Surfkurse, Reiten auf einer Hazienda, und
vieles Mehr oder wir geniessen einfach den Strand. Zwischendurch erledigen wir
die Aufgaben für die Sprachschule. Am Abend hocken wir mit der
Familie zusammen am Boden vor dem Haus und versuchen zu verstehen und
mitzureden. Meist gehen wir schon um 9.00 Uhr nach der dritten kalten Dusche
schon wieder verschwitzt schlafen.
An den Wochenenden machen wir grössere Touren mit der Schule oder ruhen uns
einfach hier aus. Fünf Minuten von unserem Casa entfernt gibt es einen
wunderbaren kleinen Wasserfall mit einem Teich zum schwimmen. Mit Omer sind wir
oft an diesem traumhaften Ort. Mit ihm schnorcheln wir im Bach, er fängt Krebse
und gemeinsam springen wir mit einer Liane ins kühle Wasser. An den Strand
gehen wir zur Zeit nicht. Es haben sich mehrere Krokodile aus dem Fluss ins
Meer verirrt und das macht den Leuten hier echte Angst. Im Haus begegneten uns
schon zwei Skorpione. Neben den niedlichen Vögeln machen uns auch diese Tiere
grossen Eindruck.
Bei einem Abendessen erzählt uns die Tochter
von Hannya, Eveline, dass es in Costa Rica viele kirchliche Gemeinschaften gibt,
von den Zeugen Jehovas bis zu konservativ evangelikalen Gruppen, in denen die
Frauen weder kurze Röcke noch Schmuck tragen dürften. In einer Gemeinde brächten
die Leute viel Geld. Der Pastor fahre in einem schönen Auto, lebe in einem
grossen Haus und die Gläubigen brächten ihm ihr Erspartes. Die meisten Leute seien aber katholisch. Viele
gingen am Samstagabend aus, tanzten und trinkten Alkohol und
dann gingen sie am Sonntagmorgen scheinheilig in die Kirche, um zu beten.
Während einer Tour auf die Insel Caño begegnen uns Delphine und beim
Schnorcheln sehe ich so viele wunderbare Fische, dass ich mich für eine erste
Tauchtour anmelde. Um fünf Uhr Morgens ist für mich Tagwach. Der erste Tauchgang im Meer ruft mich
aus den Federn. Susanna geht allein in den Spanischunterricht. Eine Gruppe von
vier Tauchern und fünf Schnorchlern trifft sich vor der Tauchbasis. Wieder fahren wir in einem kleinen Boot zur Insel Caño und
von da aus zu einem guten Tauchplatz. Es ist kaum zu glauben, beim ersten
Tauchgang im Meer begegnet mir ein Hai. Die Vielfalt und die Menge der Fische
hier ist berauschend. Auch grosse Rochen schrecken wir aus ihrer Ruhe ihm Sand
auf und in einer Felsspalte entdecken wir eine Moräne. Der zweite Tauchgang
nach dem Mittagessen und einer Schnorcheltour von der Insel aus wird noch
gewaltiger. Sicher acht grosse Haie begegnen uns. Sie beobachten uns genau und
drehen ihre Runden. Das freie Schweben in dieser Welt ist eine wunderbare
Erfahrung. Klares und warmes Wasser schenken uns ein wunderbares Erlebnis an
einem der schönsten Plätze dieser Welt.
Der Start meines Bildungsurlaubes hier in Costa Rica ist eine grossartige Erfahrung.
Währen der Schulzeit unternehmen wir einige Touren in den Regenwald und auf
die Insel Caño. Werni
geht ein zweites Mahl auf Tauchstation. Die Sicht ist wieder fantastisch, eine
starke Strömung raubt uns aber die Luft und hindert uns am lockeren Tauchen im
Riff. Susanna kommt mit einer Freundin aus Deutschland mit auf die Tour, um mit
dem Schnorchel die Unterwasserwelt zu erkunden. Wie im Flug sind die vier Wochen
vergangen. Wir haben viel gelernt aber vor allem einen Einblick in das Leben der
einfachen Leute in Costa Rica erhalten. Die Menschen sind sehr offen, freundlich
und hilfsbereit und die Familienstruktur ist überlebenswichtig. Ein Enkel
unserer Hausmutter litt plötzlich an starkem und steigendem Fieber und alle
Hausmittel nützten nichts. Er musste ins Spital. Die Mutter, Miryam, die zwei
Söhne alleine erzieht, geht mit ins Kinderspital nach San Jose und schläft
dort auf dem Stuhl. Der Bruder des erkrankten zieht bei uns ein und unsre
Hausmutter hält alle Fäden zusammen. Gefährliche Bakterien haben bei dem 10
Jährigen Jungen zu einer Herzgefässentzündung geführt. Alle machen sich
grosse Sorgen und das Telefon klingelt Tag und Nacht. Die Familie legt Geld für
Miryam zusammen, damit sie in San Jose essen kann. Das gemeinsame Sorgetragen
erleichtert dem einzelnen die Last. Nach vier Tagen haben sich die Gemüter
beruhigt und Hannya, unsre Hausmutter, findet wieder zu ihrer fröhlichen
Herzlichkeit.
Der Abschied von all den uns lieb gewordenen Menschen fällt uns nicht
leicht. In der Schule erhalten wir ein Zertifikat und die verschiedenen
Angehörigen der Familie kommen bei Hannya vorbei, um uns alles Gute und viel
Glück zu wünschen. Wir haben für die letzte Woche in Costa Rica ein Auto
gemietet. Die Koffer sind gepackt. Wir laden alles ein, ausser der Gitarre, die
ich hier gekauft habe. Ich kann sie nicht ins Flugzeug mitnehmen und überlasse
sie den Kindern mit einigen Instruktionen für das Lied "La
cucaracha". Im ganzen Dorf ist das nun die zweite Gitarre. Sicher wird ein
Enkel der Familie das Spielen auf der Gitarre lernen.
Die erste Etappe führt uns nach San Jose ins Kinderspital. Wir besuchen
Miryam und ihren kranken Sohn. Beide freuen sich sehr über unseren Besuch und
wir können uns auch von ihnen noch verabschieden.
Am folgenden Tag fahren wir an die Karibikküste und finden trotzt der "Semana
Santa" noch eine Unterkunft in Puerto Viejo. Bob Marley ist allgegenwärtig
in der Musik in den Restaurants, auf Bildern und T-Shirts und viele junge
Männer tragen Rastas. Das Wetter ist regnerisch aber kein bisschen kühler. Das
Mehr ist aufgewühlt und der Wellen gang hoch. Das Schnorcheln im
Korallenriff ist kaum möglich. Wir begnügen uns mit Baden und besuchen einen
Schmetterlingsgarten. Für den zweiten Tag habe ich mich zu einem Tauchgang
angemeldet. Susanna geht auf "Lädelitour". Mit einem kleinen Boot
fahre ich auf das Mehr hinaus an einen Platz, wo Delphine ihr Morgenessen
geniessen. Wir können zwei Delphingruppen beobachten und das bei hohem
Wellengang. Ich übergebe mein Morgenessen dem Meer. Trotz der Übelkeit wage
ich den Tauchgang hinunter zu einem der schönsten Korallenriffe. Leider ist das
Meer durch den hohen Wellengang aufgewühlt und trüb. Die Sicht ist schlecht.
Trotzdem erhalte ich einen kleinen Eindruck von der Vielfalt und Farbenpracht
dieses Riffes.
Den
zweiten Teil der Woche verbringen wir in den Bergen. In Fortuna, am Fuss des
Vulkans Arenal, finden wir eine Unterkunft. Vor Ostern wird in ganz Costa Rica
kein Alkohol verkauft und in den Restaurants weder Bier noch Wein angeboten.
Wir verbringen die Ostertage neben einem ständig grollenden und hustenden Berg
und in vor Leben strotzenden Regenwäldern. Lavaflüsse und Gesteinsbrocken, die
der Vulkan ausgespuckt hat, zerstören Leben. Aber die Kraft des Lebens ist
gewaltig, sucht sich Nischen und entfaltet sich neu. Der Vulkan ist zugleich
Nährboden für das Leben. Der Ort hier erzählt mir so seine Osterbotschaft. In
Gedanken bin ich aber auch oft zuhause in unseren Gottesdiensten.
Es ist Ostermontag. Wir finden uns im Flughafen von San Jose ein und unsre
Reise führt uns weiter nach Argentinien. In die gewaltige Stadt Buenos Aires
und zugleich in den Herbst im Süden von Amerika.
Nach dem Leben im kleinen vom Regenwald umgebenen Dörfchen Dominicalito ohne
gepflasterte Strassen und mit nur ganz wenig Verkehr ziehen wir in eine Wohnung
in der riesigen Stadt Buenos Aires ein. Morgens um 4 Uhr werden wir von einem
Studenten der theologischen Universität ISEDET und einem Taxifahrer am
Flughafen abgeholt. Noch 30 Minuten und wir öffnen die Tür zu einer richtigen
Studentenbude. Wir packen nicht mehr viel aus, es ist Zeit zum Schlafen. Am
Morgen höre ich vertraute Klänge vor der Tür, zwei Frauenstimmen, die sich
deutsch unterhalten. Wir lernen Anna kennen, die gerade Alexandra aus Basel in
das Leben hier in Buenos Aires einführt. Anna ist schon seit einem Jahr hier in
einem Volontariat und Alexandra will nach der Matur in Argentinien für
drei Monate andere Erfahrungen sammeln. Wir sind froh, um alle Tipps von Anna,
insbesondere die Erklärungen zum Stadtplan und dem Fahren mit den Stadtbussen.
Trotzdem werden wir im Verlauf der ersten zwei Wochen drei Mal in einen falschen
Bus einsteigen. Nach den Plaudereien putzen wir die Studentenbude und richten
uns gemütlich ein, bis wir am Abend erfahren, dass für uns im Hauptgebäude
des ISEDET eine geräumigere Wohnung bereit steht und die erste Einquartierung
ein Irrtum war. Wir räumen die Bude, putzen ein zweites Mal, schrecken einige
riesige Kakerlaken auf (Offen gestanden haben diese Käfer uns mehr erschreckt
als wir sie.), und machen es uns in der Wohnung gemütlich.
Die meisten unserer ersten Bezugspersonen sprechen deutsch. René Krüger,
der Rektor des ISEDET, Jorge Gerhard, der Diakoniebeauftragte der JERP (ehemals
deutsche evangelische Gemeinde Argentiniens) und einige der Professorinnen und
Professoren. Die Mehrheit der Studenten aber spricht nur spanisch. Zwei drei
Studentinnen sind aus Deutschland und aus der Schweiz haben wir bisher einen
Studenten entdeckt.
Nach Absprache mit René Krüger besuchen wir vier Vorlesungen die jeweils
abends zwischen 18.00 und 20.00 Uhr oder von 20.00 bis 22.00 Uhr stattfinden. Die meisten Studenten arbeiten am Tag, um sich das Studium zu
finanzieren, das vier Jahre dauert. Das ist nicht nur beim ISEDET so, auch
andere Universitäten sind auf ein Abendstudium eingerichtet. Die
Studienfächer, die wir belegen sind: Diakonie, Gesellschaft und Theologie,
Exegese des Lukasevangeliums und Ethik. Zunächst verstehen wir kaum ein Wort.
Mehr und mehr erahnen wir aber die zentralen Fragen, um die sich die Vorlesungen
drehen. Tagsüber lernen wir gemeinsam spanisch, lesen, zeichnen, erkunden die Stadt,
kaufen ein, kochen, waschen, putzen oder suchen nach Grünflächen in unserer Umgebung. Alles machen wir gemeinsam. Am Sonntag gehen wir in die nahe gelegene
Methodistengemeinde. Die Theologie des alten Pastors, die frische des ebenfalls
alten Kantors und die Herzlichkeit der Gemeindeglieder kommen uns sehr entgegen.
Neue Gesichter werden willkommen geheissen und bekommen das Mikrophon in die Hand
gedrückt, um sich vorzustellen. Auch der Friedenskuss darf nicht
fehlen.
Im Unterschied zu unseren theologischen Fakultäten fliesst hier die
Vergangenheit und Gegenwart Argentiniens in alle Studienfächer hinein. Eine Exegese
des Lukasevangeliums ohne Bezug zu Politik und Gesellschaft ist
undenkbar. Die Erinnerung an verschwundene und ermordete Frauen und Männer aus
der Kirche und den Universitäten ist noch viel zu nahe und die soziale
Situation der Gegenwart ruft nicht nur nach Barmherzigkeit sondern auch nach
Gerechtigkeit und aktivem Handeln innerhalb des gesellschaftlichen Systems. Und obwohl die
Verschmutzung von Luft und Gewässern zum Himmel stinkt, wird diese Thematik
kaum angesprochen. Wir ersticken fast in den Strassen dieser Stadt, das scheint
aber niemanden sonst zu stören. Die politische Stabilität und die Freiheit im
wirtschaftlichen Leben ohne soziale Absicherungen bewirken, dass die Menschen
zurzeit vor allem damit beschäftigt sind, den Anschluss ans gesellschaftliche
Leben nicht zu verlieren. Nicht alle können in den Supermärkten einkaufen und nicht für alle gibt es Arbeit. So entsteht neben den grossen Märkten
auch ein kleiner neuer Schattenmarkt. Vor den glänzenden Fassaden stehen oder
liegen kleine Verkaufsstände mit verschiedenen Artikeln, die ohne Kasse und
Sicherheitspersonal auf der Strasse zum Verkauf angeboten werden. Oder
Abfallsammler durchwandern mit ihren Karren die Strassen der Stadt von
Abfallberg zu Abfallberg auf der Suche nach Karton, Altpapier, Altglas oder
anderen Dingen, mit denen sich einige Pesos verdienen lassen. Diese Sammler sind
hier im sozialen System etwa so angesehen, wie die Hirten zurzeit Jesu und
gerade den Hirten wurde zuallererst das Heil verkündet.
Die Erfahrungen der letzten Wochen gingen unter die Haut. Gemeinsam mit dem
Dekan Jan Schäfer aus Deutschland besuchten wir verschiedene diakonische
Projekte der evangelischen Kirchen in den armen Quartieren an den Rändern der
Stadt Buenos Aires und auch zwei Kinderheime in der Provinz Entre Rios. Im MEDH
(Movimiento
Ecuménico por los Derechos Humanos), einem ökumenischen Zentrum für
Menschenrechte, erfuhren wir auch noch einiges über die Geschichte dieses Landes
und die Folgen der Militärdiktatur. Die unglaublich riesige Stadt Buenos Aires
wächst auch heute noch ständig weiter. Menschen vom Land oder Einwanderer aus
Bolivien oder Paraguay versuchen hier ein neues Leben aufzubauen und den
Anschluss an die moderne Gesellschaft zu finden. Meist organisieren sich einige
Familien und besetzten ein ungenutztes oft für den Besitzer unbrauchbares oder
als Müllhalde dienendes Landstück. Dort bauen sie sich mit einfachsten Mitteln Hütten
und dann beginnt
der Kampf ums Überleben und um minimale Rechte für das neue Zuhause. Manche Landbesitzer
fordern von der Regierung die Räumung des Landstücks, was die Polizei auch mit
nicht wenig Gewalt ausführt, wenn sie vom Besitzer genug geschmiert wird.
Andere Besitzer profitieren von den Landbesetzungen, weil sie für dieses für
sie unbrauchbare Land von verschiedenen Hilfsorganisationen einen Geldbetrag
erhalten, damit die Familien dort bleiben können. Es ist unglaublich, mit wie wenig Mitteln sich Menschen ein neues
Zuhause einrichten können. Dennoch fehlt es meist an vielem. Es gibt kein
Wasser, keine Kanalisation und keine Elektrizität. Die Zugangsstrassen
verwandeln sich bei Regenwetter in Sümpfe und überall verteilt sich Abfall,
denn auch die Abfallentsorgung muss organisiert werden. Die Väter suchen Arbeit
in der Stadt und die Kinder sollten in eine Schule integriert werden. Die Familien brauchen
Nahrung und medizinische Versorgung. Der Aufbau der ganzen Infrastruktur muss
organisiert werden.
Und hier beginnt die Diakonische Arbeit der Kirchen. Das jüngste Quartier,
das wir besuchten, war gerade 8 Monate alt. Die Kirche baute selbst ein
kleines Hüttchen auf, um dort mit Gas oder Kohle eine Küche einzurichten und im
benachbarten Quartier wurden einige Räume freigestellt als Treffpunkt und
organisatorisches Zentrum. In dieser Phase des entstehenden Quartiers ist vor
allem Essen und Unterstützung in rechtlichen Fragen nötig und Hilfe beim Aufbau der
Infrastruktur. Kinder und Frauen erfahren in diesen Quartieren viel Gewalt und brauchen
Schutz, Hilfe und Beratung. Quartiere, die schon einige Jahre alt sind,
verändern sich gewaltig. Wo eine Familie einen Erwerb gefunden hat, werden die
Hütten stabiler. Es gibt Strom und Wasser und die Kanalisation wird gegraben.
Alles machen die Bewohner selbst. Und mit diesen Veränderungen verändert sich
auch die diakonische Arbeit der Kirchen. Meist entsteht aus dem ersten Häuschen
ein kleines Gemeindezentrum. Ein Treffpunkt für die Menschen im Quartier. Wenn
nötig wird immer noch gekocht. Oft gibt es einen Kindergarten einen Spielplatz
und ein Treffpunkt für Jugendliche und Frauen. Kindern wird ein Stück der
verlorenen Kindheit zurückgegeben. Schüler erhalten Aufgabenhilfe und
Jugendliche haben die Möglichkeit
in verschiedenen Werkstädten eine Anlehre zu machen. Oft erleben sie hier zum
ersten Mal, dass sie von der Gesellschaft als wertvolle Menschen angesehen und
behandelt werden. In der Regel treffen sich auch Frauen regelmässig zu
Gesprächen. Jugendliche und Frauen erhalten Stärkung ihrer Persönlichkeit,
Beratung und wenn nötig psychologische Betreuung. Erwachsene Männer, die
Väter der vielen Kinder in diesen Quartieren, sind oft abwesend.
Argentinien hat einiges aufzuarbeiten und die jüngste Geschichte der Gewalt
sowie die Wirtschaftskrise prägt das Land und die Menschen. 30000 Menschen
verschwinden nicht einfach so ohne Folgen. Und wenn plötzlich ein Heer von
Familien obdachlos in den Parks nach Lebensraum sucht, lässt das niemanden
kalt. Auch die Kirchen nicht. Schnelles Handeln ist angesagt. Die Frage,
wie man diese Arbeit trägt, abstützt und finanziert, wird erst jetzt gestellt.
Die laufenden Projekte werden zum Teil von den örtlichen Kirchen selbst
finanziert. Gewisse Anteile gerade für Kindergarten und Betreuungsplätze von
Jugendlichen werden vom Staat getragen. Ein weiterer Teil der nötigen Finanzen
steuern die Kirchen aus Deutschland und der Schweiz bei. Zudem kommen viele
junge Erwachsene aus Deutschland als Volontärinnen und Volontäre nach
Argentinien, um für drei Monate bis zu einem Jahr in einem Projekt
mitzuarbeiten und unbezahlbare Erfahrungen zu sammeln.
Nein, die evangelischen Kirchen hier in Argentinien sind nicht hinter die
reformatorische Erkenntnis "allein die Gnade" zurückgefallen.
Die Notwendigkeit der Diakonie, ohne auszurechnen, was für die Kirche dabei
herausspringt, war hier bis vor kurzem noch ganz selbstverständlich. Das
hat nichts mit Werkgerechtigkeit zu tun, ebenso wenig wie der von Luther
verkannte Jakobsbrief. Die
Gnade aus der Liebe Gottes zu uns hat nicht nur eine Innenseite. Sie sucht ihren
Ausdruck. Sie sucht Füsse und Hände. Sie will hingelangen zu den Bedürftigen
und sie will Umarmen. Handeln aus der Erfahrung des Beschenktseins ist nicht
einfach eine Möglichkeit christlichen Lebens. Diakonisches Handeln ist ein
tiefes Wissen, dass der Mensch alles, vom Leben über die Begabungen bis hin zum
Vermögen nicht als Privatbesitz zur Verfügung hat, sondern als Pacht und
Leihgabe aus der Hand dessen, der Himmel und Erde gemacht hat. Der Jakobusbrief,
mit seiner Unterstreichung der Tat, ist wie so manches verkannte Gleichnis, eine
prophetische Kritik an die Adresse der Reichen in dieser Welt und ein Aufruf an
uns alle, gute Verwalter des anvertrauten Gutes zu sein. Hier in Argentinien, wo
die Armen vor deiner Haustür schlafen, entdecken die evangelischen Kirchen
neben Luther unseren Zwingli neu gerade wegen seiner Option für die Armen. Und
der erste Schritt der Diakonie ist das Sehen der Bedürftigkeit des Nächsten.
Kirche ohne diakonische Augen, Füsse und Hände ist keine christliche Kirche.
Wenn man die Folgen des neoliberalen Wirtschaftssystems hautnah erfahren
kann, wird man den Versprechungen der "Marktgläubigen" keinen Glauben
mehr schenken, die behaupten, der globalisierte und freie Markt bringe Wohlstand
für alle. Das Kapital fliesst, auch hier in Buenos Aires, aber es fliesst in
die Taschen einiger weniger multinationalen Konzerne und korrupten Beamten und
hinterlässt ein Heer von verarmten Menschen. Mann muss dem herrschenden System
zugute halten, dass sich ein Teil des Mittelstandes, der um die Jahrtausendwende
im Strudel der grossen Wirtschaftskrise alles verloren hatte, sich in den letzen
Jahren auffangen konnte. Dennoch zeigt sich in Argentinien deutlich, dass der
freie Markt die Menschheit in Gewinner und Verlierer spaltet. Der
ungesteuerte und freie Markt schafft grosse Abhängigkeiten und er ist alles
andere als gerecht. Es ist ungeheuerlich, dass gerade die reichen Länder den
verschuldeten Ländern dieses ungerechte System aufzwingen. Es ist
untragbar, wenn ein Land wie Argentinien Soja anbauen muss, aus dem
ökologischer Treibstoff gewonnen wird, damit die Angst vor der
Abhängigkeit der Wirtschaftsmächte vom endlichen Erdöl gedämpft wird,
und in den Elendsvierteln an den Rändern der Stadt Buenos Aires sterben Kinder
an Hunger oder ganze Familien werden aus den Wohnungen auf die Strasse
getrieben, wo sie bettelnd ums nackte Überleben kämpfen. Der Markt braucht ein
Gewissen. Und wieso soll das nicht die Kirche sein? Die Kirchen hier in Buenos
Aires haben die grösste Not mit viel diakonischem Einsatz gelindert, das
ist aber nicht alles, was die Kirche kann. Theologie und Kirche ist auch prophetisch
und erhebt ihre Stimme in gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen im
Sinne der "Option für die Armen", dem Herzstück der
Befreiungstheologie. Kirche soll aber nicht nur die zum Himmel schreienden
Ungerechtigkeiten anprangern. Theologie und Kirche hat auch konstruktive
Ansätze zu bieten, hin zu einer solidarischen Gesellschaft und einer besseren
Gerechtigkeit, in der jeder Mensch zumindest das bekommen kann, was er zum Leben
benötigt, egal, ob er es im Sinne der Marktwirtschaft nun verdient oder
nicht.
Um gehört zu werden, sind die Kirchen der dritten Welt auf die
Unterstützung unserer Kirchen angewiesen. Durch die Globalisierung des Marktes
geht die menschengemachte Armut alle etwas an.
Nach
dem Leben in der Stadt Buenos Aires erlebten wir eine weitere Seite Argentiniens
auf unserer Reise durch den wärmeren
Norden. Die grossen Distanzen in Argentinien bewältigten wir über Nacht in komfortablen
Reisebussen. Die Stationen unserer fast vierwöchigen Reise bildeten die
Touristenorte Iguazú, San Ignacio, San Miguel de Tucumán,
Tafí de Valle, Quilmes, Cafayate, Salta, Humahuaca, Cachi, Cordoba und Villa
General Belgrano. Viele bezaubernde Orte mit ganz unterschiedlichen einmaligen
Landschaften füllten die Speicherkarte unserer Digitalkamera. Uns selbst
erfüllten aber die Begegnungen mit Menschen der Kirchgemeinden, die wir auf dem
Weg besuchten.
So erzählte uns die 84 jährige Frau Schlumpf im von der Kirche geführten
Altenheim in Eldorado bei einem Mate von ihrem
Leben in der argentinischen Provinz Misiones. Sie war gerade 14 Jahre alt,
als ihre Eltern dem Ruf nach wirtschaftlichen Möglichkeiten im Land des grünen
Goldes, der Yerba, folge leisteten und die Schweiz hinter sich liessen, um sich
in Argentinien ein neues Leben aufzubauen. Es dauerte lange, bis man hier
Fuss fassen konnte, berichtet uns Frau Schlumpf. Man kaufte sich ein Stück Land, baute ein Häuschen,
versuchte sich in verschiedenen Wirtschaftszweigen, kaufte sich weiteres Land und so
erarbeitete man sich langsam eine Existenz. Ihren ersten Mann verlor sie bei
einem Raubüberfall. Ihr zweiter Mann starb nach schönen 8 Jahren an einem
Herzinfarkt. Ein Sohn mit Enkel und Urenkel lebt hier in Misiones und der zweite
Sohn kam mit Schussverwundungen nach dem Raubüberfall in die Schweiz und blieb
von da an in seinem Ursprungsland. Heute fühlt sich Frau Schlumpf zu alt, um noch einmal in die
Schweiz zu reisen. Sie ist glücklich hier in Argentinien in der Provinz
Misiones.
Bewegende Geschichten wie diese gaben uns einen Eindruck, wie das damals
vonstatten ging, als 1930 die Wirtschaftskrise viele Schweizer in die Ferne
führte. Die Familien kamen im Urwald an. Die ganze Infrastruktur musste
aufgebaut werden. Die Yerba, aus der der Mate gewonnen wird, verwandelte sich
nicht in Gold. Dennoch verliebten sich diese Menschen in das Land mit der roten
Erde. Man reiste vielleicht für die Ausbildung in die Schweiz zurück und nicht
selten reiste man mit einer Frau aus der Heimat wieder zurück nach Argentinien.
Heute sind die meisten Familien zersplittert. Einige
Kinder der dritten Generation leben mit ihren Familien in der Schweiz. Sie
arbeiten, um in Argentinien etwas aufbauen zu können. Ihre Eltern und
Geschwister leben in Argentinien. Ein Reise in die Schweiz, um die Angehörigen
zu besuchen, ist teuer und für die älteren Menschen beschwerlich und
schliesslich ist man in Argentinien zuhause. Dieses Land mit all seinen Fassetten
ist zur Heimat geworden. Es gibt sie auch, die Schweizer mit Heimweh. Eine Frau,
die mit ihrem Ehemann von Zürich nach Argentinien in die Provinz Misiones zog,
vermisst den Zürichsee, das Tram und den Blick in die schneebedeckten Berge.
Die Schweizer Mundart wurde bis in die dritte Generation gepflegt. Die
lateinamerikanische Kultur prägt aber längst das Denken und Handeln der
Auslandschweizer und in der Schweiz fühlen sie sich nicht selten als
Ausländer.
Die Besiedlung von Misiones und der Aufbau einer neuen Existenz
schweisste die Menschen hier zusammen. Vieles konnte nur gemeinsam bewältigt
werden. So gründeten Schweizer Einwanderer in der Provinz Misiones schon bald
eine evangelisch reformierte Kirche, die Iglésia
Evangélica Suiza. Es
ist nicht erstaunlich, dass die Kirche für die Menschen hier noch einen weit
wichtigeren Stellenwert hat, als bei uns in der Schweiz. Dies wurde gerade an
dem Gemeindefest deutlich, welches wir glücklicherweise miterleben konnten.
Einige ältere Männer sprachen hunsrückisch miteinander, andere
schweizerdeutsch und die dritten spanisch. Alle Generationen tranken Mate oder
Tereré, die kalte Variante des Mate. Man grillierte Unmengen von Fleisch nach
argentinischer Art. Und zur Verdauung gab es deutsche Volkstänze zu
Schlagermusik.
Der Besuch der Iglésia Evangélica Suiza, die Gespräche mit Herr und Frau
Würgler, Dario Dorsch, Martin Günthardt und mit weiteren Gemeindegliedern
werden uns unvergesslich in Erinnerung bleiben. Diese kleine Gemeinde baute
neben der Kirchengemeinschaft eine landwirtschaftliche und technische Schule
auf, die heute mit 400 internen und externen Schülerinnen und Schülern in der
ganzen Provinz bekannt ist und einen unbezahlbaren Beitrag für eine bessere
Zukunft leistet. Zudem
führt sie eine zweisprachige Primarschule für Kinder der Urbevölkerung. Die
Diakone und die Pfarrerinnen und Pfarrer arbeiten ungezählte Stunden für einen
kleinen Lohn. Denn einen grossen finanziellen Spielraum hat die Kirche nicht.
Es ist kein Geheimnis, dass die Iglésia Evangélica del Rio de la Plata,
dieser Kirchenbund, zu dem auch die Schweizerkirche gehört,
kreative Wege finden muss, um sich weiterhin finanzieren zu können. In einem
vorwiegend katholischen Land das von charismatischen und fundamentalistischen Gruppierungen
überzogen wird, sind diese von der lutherischen und reformierten Tradition
geprägten Kirchen ein wohltuendes Korrektiv in der christlichen Landschaft.
Zudem leisten sie in diesem von Krisen durchschüttelten Land auch unermessliche
diakonische Arbeit.
Wir erlebten die Stärke dieser Kirchengemeinschaft auch in der Gemeinde in
Cordoba, wo wir an einer ökumenische Frauentagung dabei sein durften und auch
in Villa General Belgrano, wo wir uns nach dem spanischen Gottesdienst mit mehr
als einer Person in Mundart unterhalten konnten. Eindrücklich bleibt uns auch
die Gastfreundschaft aller Kirchgemeinden in Erinnerung und die Zeit, die sich
die Pastorinnen und Pastoren trotz vieler Arbeit genommen haben, um uns ihre
Kirche näher zu bringen.
Die IERP ist seit kurzem auch vertraglich mit dem Schweizerischen
Evangelischen Kirchenbund verbunden. Es wäre schön, wenn diese Kirche in
unseren Kirchgemeinden bekannter würde.
Viele Kontakte sind entstanden und geknüpft worden, in den Kirchgemeinden
genauso wie an der Theologischen Fakultät ISEDET in Buenos Aires. Wir hoffen,
dass wir diese Kontakte weiter pflegen können.
Sie
beginnt in der Zeit zwischen 1908 und 1934, als die ersten Schweizer Siedler
sich in der Provinz Misiones niederliessen. Die Legende vom "Grünen
Gold" der Yerba Mate, lockte. Abenteuerlust und der Drang, neue Horizonte
zu erobern, liessen das Urwaldgebiet am oberen Paranáfluss zum
Auswanderungsziel werden. Vielversprechende Schilderungen der Pioniere erregten
Aufsehen in der krisengeschüttelten Schweiz der dreissiger Jahre und weckten
die Hoffnung einer grossen Zahl auswanderungswilliger Familien.
In der Folge ereignete sich eine eigentliche Auswanderungswelle nach
Argentinien. Angehörige der verschiedensten Berufe liessen sich als Siedler im
subtropischen Misiones nieder und versuchten ihr Glück in der Landwirtschaft.
Fern der Heimat verspürten sie den Wunsch nach einer seelsorgerlichen Betreuung
in ihrer Religion und Muttersprache.
Noch vor der eigentlichen Gründung der Kirchgemeinde beschloss der
Schweizerische Evangelische Kirchenbund, seinen fernen Landsleuten einen Pfarrer
zu schicken. So überquerte Pfarrer Gottfried Rohner mit seiner vierköpfigen
Familie inmitten der Kriegswirren den Atlantik. Ein kleineres Schiff brachte sie
anschliessend von Buenos Aires 1200 Kilometer den Paranáfluss hinauf nach
Posadas, wo sie Anfang 1944 eintrafen. In der kleinen Ortschaft Puerto Rico, im
Zentrum der Provinz, liessen sie sich nieder.
Per Schiff, zu Pferd, per Velo und sehr häufig zu Fuss suchte der Pfarrer
die zukünftigen Gemeindeglieder auf und begann die Kirchgemeinde zu
organisieren. So kam es nach wenigen Monaten zur Gründung der Evangelischen
Schweizerkirche in Misiones, Argentinien - von der Schweiz aus betreut durch den
Kirchenbund. Das Gemeindegebiet umfasste praktisch die ganze Provinz von rund
30000 Quadrat-Kilometern.
Pfarrer Rohner erkannte bald, dass das "versprochene Paradies" für
die meisten Siedler eine Illusion geblieben war. Gerade zum Zeitpunkt der
grossen Einwanderungswelle wurde das Anpflanzen von Yerba Mate verboten wegen Überproduktion.
Die Neuangekommenen mussten sich mit Jahreskulturen wie Mais, Tabak und Mandioka
über Wasser halten. Klima und Bodenbeschaffenheit verlangten besondere
Kenntnisse, welche die Einwanderer nicht mitbrachten. Ihnen bisher unbekannte
Krankheiten (z. B. Malaria) traten auf. So war es nicht verwunderlich, dass
manche Familien in Not gerieten. Der Pfarrer, welcher die Siedler auch auf weit
abgelegenen Gehöften besuchte, bekam Einblick in ihre Probleme. Oft konnte er
Hilfe bringen oder vermitteln. Er brachte die sich in der Fremde mit ihren Nöten
und Sorgen verlassen fühlenden Landsleuten Hoffnung und Verständnis. Die
gemeinsam gemeisterten Schwierigkeiten schufen unter den ausgewanderten
Schweizern Zusammenhalt und Solidarität. Die Gemeinde festigte sich. Pfarrer
Paul Wirth löste Rohner nach fünf Jahren in seiner Arbeit ab. Als 1956 Pfarrer
Jürg Bäschlin das Amt übernahm, waren die Kinder der Auswandererfamilien
herangewachsen, und die Eltern mussten sich um die Ausbildung der Kinder kümmern.
Für den Primarschulunterricht hatten sie meist als Gemeinschaftswerk Holzhäuser
erstellt, worauf der argentinische Staat die erforderlichen Lehrer (oft einen für
60 und mehr Schüler!) schickte. Was nun Not tat, war eine weiterführende
Ausbildung, welche die Jugendlichen auf ihre Tätigkeit als Bauern vorbereitete
und ihnen die Kenntnisse vermittelte, welche ihre Eltern so sehr vermisst
hatten.
So entstand mit vielen Opfern an Zeit, Geld, Arbeit und Naturalien der
Gemeindeglieder (später ergänzt durch die Hilfe aus der Schweiz, u. a. des
HEKS) das Instituto Línea Cuchilla im leinen Ort Ruiz de Montoya. Von Anfang an
öffnete die Ausbildungsstätte ihre Tore nicht nur den Söhnen und Töchtern
der Schweizerkolonisten, sondern jedem Schüler, ungeachtet seiner Religion oder
nationalen und sozialen Herkunft.
Das Institut wurde zuerst als landwirtschaftliche Fortbildungsschule geführt,
später wurde ihm eine technisch-handwerkliche Ausbildung angegliedert. Heute
vereinigt es eine landwirtschaftliche und eine technische Schule, welche mit
einem Berufsabschluss gleichzeitig zum Abitur führen.
Pfarrer Jürg Bäschlin widmete 16 Jahre seines Lebens der Schweizerkirche in
Misiones. Ihm folgten mehrere Pfarrer aus der Schweiz, welche Gemeinde und
Schule weiter betreuten.
Im August 1994 feierte die Evangelische Schweizerkirche ihr 50 jähriges
Bestehen. Gut ein Jahr nach dem Jubiläum tat sie einen weiteren Schritt in
ihrer Geschichte: Sie trat der Evangelischen Kirche am Rio de la Plata bei.
Helga Würgler-Rüegger
Ergänzende Gedanken von Martin Cunz
Die Bezeichnung "Schweizerkirche" im Namen der Kirchgemeinde in
Misiones erinnert heute vor allem an die Herkunft der Gründer und Gründerinnen
dieser Kirche in den vierziger Jahren des 20 Jahrhunderts. Aus der Schweiz
stammen heute gerade noch etwa ein Drittel der Gemeindeglieder. Die meisten
Familien, die unsere Kirche mittragen, sind entweder aus Deutschland
eingewandert oder von dort über Brasilien nach Misiones gekommen. Neben
schweizerdeutsch reden viele ältere Leute alte deutsche Dialekte, so z.B.
"hunsrückisch", wie sie sagen, weil ihre Vorfahren vor hundert Jahren
aus der Gegend zwischen Rhein und Mosel vorerst nach Brasilien ausgewandert
waren. Andere kamen aus dem Gebiet der Wolga in Russland oder aus Wolhynien
(heute Ukraine), wo frühere Generationen aus Deutschland seit dem 18.
Jahrhundert als Bauern und Händler gelebt hatten. Sie werden hier als
"Russen" bezeichnet. Daneben gibt es kleinere Gruppen aus Estland,
Finnland, Paraguay und Uruguay. Sie alle haben sich im Laufe der Zeit im
Gebiet unserer Kirchgemeinde niedergelassen, ein Gebiet, das sich im zentralen
Teil von Misiones auf etwa 60 Quadratkilometern am östlichen Ufer des Paraná
landeinwärts erstreckt.
Der überwiegende Teil der Familien lebt von der Landwirtschaft: Anbau von
Yerba Mate, das in Argentinien und den umliegenden Ländern als Getränk in
Massen konsumiert wird, Maniok, Zitrusfrüchte, Viehzucht und Aufforstung des
gerodeten Urwaldes durch Pinien für die Papierindustrie. Der wirtschaftliche
Wandel durch den Mercosur (wirtschaftlicher Zusammenschluss verschiedener
lateinamerikanischer Länder) hatte bei den traditionellen Produkten einen
massiven Preiszerfall zur Folge. Viele Familienbetriebe und die mit ihnen
verbundenen Landarbeiterfamilien stehen zurzeit am Rand des existenziellen
Ruins. Junge Menschen stehen vor der Frage, ob sie, dem Beispiel ihrer Vorfahren
folgend, weiterwandern sollen, oder zurück in die Länder, aus denen ihre
Familien einst hierherkamen.
Das Bewusstsein der Zugehörigkeit zur Gemeinde gründet heute weniger auf
der Tatsache, von europäischen Einwanderern abzustammen, sondern auf dem
Willen, in einem vorwiegend katholisch geprägten und von Freikirchen und Sekten
umworbenen Umfeld der evangelischen Kirche angehören zu wollen. Viele
Gemeindeglieder beherrschen die Muttersprache ihrer Eltern und Grosseltern nicht
mehr und sind in Mischehen verheiratet. Religiöse, kulturelle und nationale
Eigenheiten verwischen sich und formen eine Gesellschaft mit multikultureller Prägung
in dieser argentinischen Provinz zwischen Brasilien und Paraguay. Gottesdienste,
Unterricht, Jugendarbeit finden praktisch nur noch in spanischer Sprache statt.
Deutsche Kirchenlieder und vertraute Sprache der Lutherbibel werden immer
seltener, klingen dann aber dafür bei den älteren Menschen als ein Stück der
eigenen Glaubensgeschichte umso stärker nach.
Was heisst evangelisch sein mit dieser Geschichte und in diesem Land?
Eine erste Voraussetzung dazu ist die überzeugende, innerevangelische Ökumene,
in der Reformierte aus der Schweiz und Lutheraner aus Deutschland voll
zusammengewachsen sind. Dies kommt dadurch zum Ausdruck, das die Evangelische
Schweizerkirche in Misiones seit einigen Jahren Mitglied im evangelischen
Kirchenbund Iglésia Evangélica del Rio de la Plata (IERP) ist, in dem
Gemeinden aus Argentinien, Uruguay und Paraguay zusammengeschlossen sind. In den
Gottesdiensten überwiegt zwar das reformierte Element, aber auch die
lutherische Tradition lebt weiter, etwa bei der Abendmahlsfeier oder im Wunsch
vieler Gemeindeglieder, das apostolische oder nicänische Glaubensbekenntnis
gemeinsam zu sagen.
Eine zweite Voraussetzung ist die ökumenische Zusammenarbeit mit den
katholischen Pfarreien und mit Freikirchen, soweit dies möglich ist. Diese
Zusammenarbeit hat sich an vielen Stellen gut eingespielt, z.B. in gemeinsamen
Feiern, Bibelseminaren, in Stellungnahmen und Aktionen zu drängenden
gesellschaftlichen Fragen. Das gemeinsame Zeugnis und Leben des Evangeliums
durch die historischen Kirchen in einer Situation, in der gewachsene
gesellschaftliche Bindungen und überlieferte Glaubensweisen immer mehr
zerfallen zugunsten einer Zerstückelung, in der die Menschen nur noch auf sich
selbst angewiesen sind, ist ein Gebot der Stunde. Dass christlicher Glaube ein
gemeinsamer Glaube ist, der in den grossen Nöten in- und ausserhalb der
Gemeinde verändernd und befreiend wirkt, ist eine der grossen
Herausforderungen, vor denen auch die "Schweizerkirche" in Misiones
steht.
Mit ihren beschränkten Mitteln versucht die Gemeinde in der drohenden
Sprachlosigkeit zusammen mit den Menschen aus dem Evangelium die Sprache
wiederzufinden und im drohenden Verlust der Perspektiven Hoffnung zu schöpfen.
Sie tut dies neben der alltäglichen Gemeindearbeit auch in der
landwirtschaftlichen und technischen Schule Linea Cuchilla mit etwa 400 internen
und externen Schülerinnen und Schülern aus der ganzen Provinz und mit einer
hoch motivierten Lehrerschaft und Schulleitung. Das Instituto Linea Cuchilla,
eine reformierte Schweizergründung, ist heute in Misiones eine hochangesehene
und geachtete Schule, die einen wichtigen Beitrag für die gemeinsame Bewältigung
drängender schulischer, Probleme leistet. Die Gemeinde fördert überdies durch
eine Schule die ortsansässige Urbevölkerung Guarani Mbya, in der zweisprachig
in Guarani und Spanisch unterrichtet wird. Sie begleitet auch ein
Gesundheitsprojekt und unterstützt durch den Ankauf von Kunsthandwerk diese
unterdrückte und diskriminierte Bevölkerungsgruppe.
Pastor Martin Cunz
Ich gehöre zu einer sechsköpfigen
Familie, bestehend aus Mutter, Vater, zwei Brüdern, einer Schwester und mir.
Die ganze Last für den Unterhalt der Familie ruht auf den Schultern meiner
Mutter. Seit einem Unfall ist mein Vater stark behindert. Er erhält weder eine
Rente noch Sozialhilfe. Wir wohnen in einem prekären Holzhaus. Zum Glück haben
wir wenigstens elektrisches Licht.
Leider hat auch mein Bruder kürzlich
einen Unfall erlitten, so dass er zurzeit nicht weiter lernen kann. Er hatte
beide Hüftknochen ausgerenkt und musste operiert werden. Der rechte Oberarm und
der Kieferknochen waren auch gebrochen. Mein Bruder darf sich vorläufig nur im
Rollstuhl bewegen, bis er geheilt ist. Um ihn zu pflegen, musste meine Mutter
ihre auswärtige bezahlte Arbeitsstelle aufgeben. Sie hat keinen Beruf erlernt,
da sowohl sie wie auch mein Vater nur die Primarschule besuchen konnten.
Ich selber leide seit meiner
Kleinkinderzeit an rheumatischem Fieber. Seit 11 Jahren muss ich jeden Monat
eine Penizillin-Spritze erhalten, welche jedes Mal 12 Dollars kostet. Bisher
hatten wir eine Krankenversicherung über die Tabakpflanzer-Genossenschaft. Doch
der Forst und familiäre Umstände haben uns dies Jahr daran gehindert, Tabak
anzupflanzen, sodass wir ohne Krankenkasse bleiben werden.
Wir haben ein paar Hühner und Kühe
für den Eigenbedarf. Die landwirtschaftliche Produktion hilft knapp zum Überleben.
Ich möchte einen technischen
Beruf erlernen. Ich bin gerne Schüler am ILC. Das Institut hat im Gegensatz zu
anderen Schulen Maschinen und Werkzeuge, welche uns nebst der theoretischen auch
eine praktische Ausbildung ermöglichten. Wenn ich ausgelernt habe, möchte ich
in einem Geschäft für elektrische Installationen und Reparaturen arbeiten.
Aber zuerst muss ich meine Berufsdiplom als "Técnico electo-mecánico"
erwerben und dazu bin ich auf ein Stipendium für weitere 3 Jahre am ILC
angewiesen.
Schüler, 15 Jahre
Ich bin die meiste Zeit des
Jahres im ILC, nur einmal im Monat gehe ich nach Hause. Unser Haus ist im Wald
gelegen, gebaut aus Holz und Backsteinen. In den Ferien arbeite ich mit meinem
Vater. In den letzten Jahren pflanzten wir Tabak, aber der Preis ist sehr tief für
die viele Arbeit. Man müsste mehr dafür erhalten.
Wir können hier viele Früchte
produzieren, z.B. Orangen, Bananen, Mandarinen und Papayas. Aber der Markt ist
schlecht, die Distanzen sind zu gross und die Strassen nicht unterhalten und
deshalb oft unpassierbar. Für eine Tonne Orangen erhält der Produzent zwischen
50 und 60 Dollars. Davon muss man noch die Transportkosten abrechnen.
Es bleibt uns immer weniger Geld
zum Leben. Meine Familie kommt knapp durch dank Selbstversorgung mit
Lebensmitteln. Für Ausbildung reicht das Geld nicht. Deshalb müssen wir
Stipendien beantragen.
Jaime
Die Wiederbegegnung mit dem ILC
bewegt mich. Ich verdanke ihm so viel! Ihm und den Spendern der
Stipendiengelder. Was wäre aus mir geworden ohne diese einmalige Chance, im ILC
6 Jahre zu lernen, menschlich, geistig und körperlich zu wachsen! Mir wäre
nichts anderes übrig geblieben, als das Schicksal meiner Eltern zu teilen,
unseren steinigen Boden zu bearbeiten, Tabak zu pflanzen und mit dem mageren Erlös
zu vegetieren. Das ILC hat meinem Leben Sinn und eine neue Richtung gegeben.
Ex Schüler und Theologie
Student
Im Vergleich zum Misiones-Bauern
ist der Schweizerbauer ein Herr! Man begegnet ihm mit Respekt! Bei uns ist der
Landwirt auf einer niedrigen sozialen Rangstufe und es geht ihm entsprechend
schlecht, obwohl er die Nahrung für die Höhergestellten produziert! Allerdings
haben die meisten Bauern im Unterschied zur Schweiz keine berufliche Ausbildung
- es sei denn, sie hätten das Glück gehabt, z. B. am ILC lernen zu Können.
Selbst die Hühner behandelt man
in der Schweiz mit Respekt! Man sorgt dafür, dass sie genügend Raum haben.
Nicht mehr als vier Hühner pro Quadratmeter ist vorgeschriebene Norm. Sie
werden als Lebewesen behandelt, nicht nur als Fleischproduzenten.
Auf der strecke Zürich-Bern gibt
es eine Brücke mit dem einzigen Zweck, Wildtieren das gefahrlose Überqueren
der Autobahn zu ermöglichen! Ein Zeichen ausserordentlichen Respekts gegenüber
der Natur. Bei uns fehlen sogar Sicherheitsvorschriften für die Menschen.
In der Schweiz haben die Fussgänger
Rechte! Die Fussgängerstreifen werden beachtet! Mit Handaufheben kann ein Kind
oder ein behinderter Mensch ein Auto stoppen.
In der Schweiz respektiert man
den Schlaf des Nachbarn. Ich war an einem Geburtstag eingeladen. Das Fest begann
um sechs Uhr abends und endete um elf Uhr, und das an einem Samstag!
Und noch verrückter: da werden
auf einem Feld nahe der Strassen Blumen kultiviert. Wer will, kann ohne Aufsicht
einen Strauss pflücken. Am Strassenrand liegt eine Preisliste auf, und der
Kunde bezahlt, indem er die entsprechende Summe in ein Kässeli legt. Dasselbe
passiert sogar mit Gemüsekulturen. Und es funktioniert! Das hat mir riesigen
Eindruck gemacht! So viel gegenseitiges Vertrauen ist dort möglich!
Bevor ich in die Schweiz reiste,
hatte ich hie und da Kommentare gehört, wie z. B.: der Schweizer ist
berechnend! Er denkt immer an seinen Vorteil.
Ich habe das Gegenteil erlebt.
Ich wurde mit grosser Liebe aufgenommen, vor allem von den Personen, welche früher
einmal in Linea Cuchilla gearbeitet hatten und eine Zeit ihres Lebens unserer
Schule oder Kirche gewidmet haben und diese auch weiter unterstützen. Sie haben
nicht darauf geschaut, ob ich arm oder reich sei. Ich komme aus einer einfachen
Bauernfamilie. Diese Leute aber haben mich aufgenommen wie einen Sohn!
Ing. Agr. und Ex Schüler und
Lehrer Victor Pellizzer nach seinem Aufenthalt in der Schweiz
Mate
ist nicht einfach ein Getränk. Klar, er ist flüssig und man nimmt ihn mit dem
Mund ein. Aber dennoch ist er kein Getränk. In diesem Land trinkt niemand Mate
weil er durst hat. Er ist viel mehr eine Gewohnheit, wie das Kämmen am Morgen.
Der Mate ist genau das Gegenteil vom Fernsehen. Er verhilft dir zum Gespräch,
wenn du mit jemandem zusammen bist und er gibt dir zu denken, wenn du allein
bist.
Wenn jemand an deiner Tür klopft, dann ist die erste Aussage
"Hola" und die zweite "¿Unos
mates?". Das geschieht in jedem Haus. Bei den Reichen genau so wie bei den
armen. Es geschieht bei schwatzhaften Frauen und bei seriösen oder unreifen Männern.
Dies ereignet sich zwischen den Seniorinnen und Senioren im Pflegeheim und
zwischen Jugendlichen während dem Studium aber auch zwischen jungen Menschen,
die Suchtmittel zu sich nehmen. Es ist das einzige, was Eltern und Kinder
verbindet, ohne dass Diskussionen nötig sind und ohne dass man sich in die
Haare kommt. Peronisten und Radikale machen sich einen Mate ohne zu Fragen. Im
Sommer genauso wie im Winter. Es ist das einzige, in dem sich Opfer und Täter
gleichen. Die Guten und die Bösen.
Wenn du ein Kind hast, fängst du an ihm Mate zu geben, wenn es
dich bittet. Du gibst sie lauwarm, mit viel Zucker, und das Kind fühlt sich
gross. Du empfindest einen grossen Stolz, wenn ein bisschen Mate durch deine
Adern pulsiert. Dann, mit den Jahren, nehmen sie ihn bitter oder süss,
sehr heiss oder kalt, mit Orangenschalen oder Zitrone. Wenn du jemanden
kennenlernst, dann nimmst du mit ihm einen Mate. Wenn kein Vertrauen besteht,
fragen die Leute: "Süss oder bitter?" Die Antwort lautet: "Wie
du ihn nimmst." Die Tastaturen in Argentinien haben die Tasten voll von
Yerba, dem Kraut zum Aufgiessen des Mate. Die Yerba ist das einzige, was es
immer gibt in jedem Haushalt. Egal ob es Zeiten von Inflation, Hunger, Militärdiktatur,
Demokratie oder sonst irgend einer üblen Sache sind.
Und wenn es einmal keine Yerba gibt, hat bestimmt dein Nachbar
welche und er gibt dir etwas ab. Die Bitte nach Yerba kann man nicht abschlagen,
niemandem. Argentinien ist das einzige Land, in dem die Entscheidung vom Jüngling
zum Mann zu werden mit einem individuellen Tag zusammenfällt. Er hat nichts mit
langen Hosen zu tun, nichts mit Beschneidung. Es ist der Tag, an dem ein
Jugendlicher die Pfanne aufs Feuer stellt und seinen ersten Mate nimmt, ohne
dass jemand sonst im Haus ist. Von diesem Augenblick an, hat er seine Seele
entdeckt, oder er ist tot vor Angst oder tot vor Liebe. Egal, aber bestimmt ist
es nicht irgendein Tag.
Niemand von uns erinnert sich an den Tag, als er zum ersten Mal
einen Mate allein nahm. Aber es muss ein wichtiger Tag gewesen sein für jeden
einzelnen mit einem Umbruch im Innern. Der einfache Mate ist nicht mehr und
nicht weniger als die Demonstration, ein Mann zu sein. Es ist das Wissen, dazu
zu gehören und mit zu reden, die Plauderei, nicht der Mate.
Es ist der Respekt vor der Zeit zum Reden und Zuhören. Du
sprichst, während der andere den Mate nimmt und umgekehrt. Es ist die
Aufrichtigkeit zu sagen: "Basta, wechsle die Yerba!" Es ist der
Augenblick der Kameradschaft. Es ist die Sensibilität für die Temperatur des
Wassers. Es ist die Herzlichkeit zu Fragen: "Es ist heiss, nicht?"
Es ist die Bescheidenheit, die beste Mate aufzusetzen. Es ist
die Grossherzigkeit, zu geben bis zum Final. Es ist die Gastfreundschaft der
Einladung. Es ist die Gerechtigkeit zwischen dem einen und dem andern. Es ist
die Verpflichtung zu sagen "Gracias", mindestens einmal am Tag. Es ist
die aufrichtigste Begegnung, um zu teilen ohne grosse Ansprüche. Jetzt weisst
du, ein Mate ist nicht nur ein Mate...
 
Auch Urlaub gehört zum Bildungsurlaub. Zwischen den
Erfahrungen in Argentinien und der letzten Station unseres Aufenthaltes in
Lateinamerika, der Stadt Cali in Kolumbien, schalten wir zwei Wochen Entspannen
auf den zu Kolumbien gehörenden Inseln San Andrés und Providencia ein. In
den sicheren Händen des Tauchlehrers Werner Köster kann Susanna in den
Korallenriffen von San Andrés einige Erfolgserlebnisse beim Schnorcheln
verbuchen und die zweite Insel, Providencia, entpuppt sich als kleine
karibische Trauminsel. In den Gesprächen mit Marcel, einem Schweizer, der sich
hier seit 17 Jahren ein neues Leben aufgebaut hat, erfahren wir, dass nicht
alles, was paradiesisch aussieht auch paradiesisch ist. Polizei und Regierung
ist hier ebenso korrupt, wie an vielen andern Orten in Lateinamerika. Das
ursprüngliche Leben der Inselbewohner ist längst durch die Geldwirtschaft und
Tourismus zu
Ungunsten der Solidarität untereinander verändert worden. Eigeninteressen und
Eifersucht bestimmen immer mehr das Leben und ein Bewusstsein für den Schutz
der Natur muss zuerst erarbeitet werden. Als Touristen erfahren wir aber vor
allem die freundliche Seite der Inselbewohner und wir spüren auch etwas von der
liebevollen Verbundenheit der einheimischen Bevölkerung mit ihrem kleinen Land. Die Tage am Strand
und in den Fischrestaurants vergehen beim Geniessen der Ruhe und dem Tauchen
in den Korallenriffen viel zu schnell. Aber wir freuen uns auch auf das
Wiedersehen mit Sonja und die Zeit mit Thomas in Cali.
ABC in Cali
Weit weg
von Affoltern und ebenso weit weg von der Arbeit in der Kirche erreichen uns Grüsse
aus Affoltern. Thomas Müller und unsre Tochter Sonja haben sie mitgebracht nach Kolumbien in die Stadt
Cali, die letzte Station unserer Zeit in Lateinamerika. Die Grüsse sind noch
ganz frisch, nur wenige Tage alt. So frisch wie die Mangos, die wir auf unseren
Wanderungen auf der Insel Providencia gefunden haben. Und sie schmecken ebenso
süss.
Es ist erstaunlich, wie schnell unsre Gedanken in Affoltern sind, bei all den
vertrauten Gesichtern, die wir schon seit langem nicht mehr gesehen haben. Deshalb schicken
wir Grüsse unsererseits aus der Ferne, in der Hoffnung, dass
auch diese gute Erinnerungen wach rufen. Wir haben die Auszeit bisher genossen
und die Distanz zu all den eingespielten Gewohnheiten hat uns gut getan. Werden
wir es schaffen, auf alten Wegen neue Schritte zu gehen? Wir werden sehen. Jetzt
wollen wir die letzten Wochen noch voll und ganz hier sein, um einen Einblick in
die Arbeit des Vereins „Agua Blanca Colombia“ zu bekommen.
Wie in den meisten grossen Städten gibt es auch an den
Rändern von Cali grosse Hüttensiedlungen, wo Menschen in einfachsten
Verhältnissen leben. Hier setzt die Arbeit von "Agua Blanca Colombia"
ein. Die Ärmsten der Armen sollen von den Spenden direkt profitieren und die
finanzielle Unterstützung soll eine nachhaltige Wirkung erzielen. Anders als bei den grossen
Hilfswerken verschlucken weder Administration noch Schweizerlöhne grosse
Anteile der Spenden. Mit eigenen Augen können wir sehen, dass dieses Projekt
auch ohne grossen Verwaltungsaufwand sehr effizient und wirkungsvoll
funktioniert dank der
unentgeltlichen Arbeit von Thomas Müller. Thomas besucht zusammen
mit einer Mitarbeiterin aus dem Quartier jede Familie, die von ABC bisher Hilfe
bekommen hat
oder diese erbittet. Die Hilfe beschränkt sich zu einem grossen Teil auf das Abgelten
des Schulgeldes für die Kinder der Primar- und der Oberstufe. Thomas erhält
Einblick in das Leben und die Leistungen der Kinder und verteilt viel Lob für gute
Schulabschlüsse und manchmal auch ein ermunterndes kritisches Wort bei
ungewöhnlich vielen Absenzen. Bei
annähernd 400 unterstützten Kindern ist das eine aufwändige aber lohnende
Arbeit. Schnell spricht sich herum, dass der "Gringo" wieder da ist
und es entwickelt sich eine lebhafte Eigendynamik, welche Thomas in verschiedenste
neue Familien führt. Keine Versprechungen werden auf der Gasse gemacht. Thomas
will die Kinder sehen und auch ihre Lebenssituation. Wenn auch alle Familien in
sehr bescheidenen Verhältnissen wohnen und leben, wer sich auf Abzahlung eine
DVD-Anlage leisten kann, der bringt auch das Schulgeld zusammen. Viele Familien
leben aber in äusserst einfachen Hütten, die oft in prekären Zuständen sind und ohne
jeglichen "Luxus". Aber selbst in diesen Familien sagt sich Thomas, wo ein Mann mit
Arbeit zuhause lebt, sollte es möglich sein, das Schulgeld aufzubringen.
Täglich ist Thomas in den Quartieren unterwegs und erreicht auf diese Weise die
Ärmsten mit einer nachhaltigen Hilfe. Sicher gibt es auch Enttäuschungen.
Gerade da, wo ein Junge seine Schulkarriere aufgegeben hat, um irgendwo als
Einpacker in einem Supermarkt ein paar Pesos zu verdienen. Oft endet die
Schulkarriere bei Mädchen mit einer Schwangerschaft. Diese Erfahrungen führten zu einem
zweiten Standbein von ABC. Junge Frauen und Männer können in einer von ABC initiierten
Klasse
das Abitur nachholen, die Voraussetzung für eine weiterführende berufliche
oder universitäre Ausbildung. Zur Hilfe von ABC gehört daher immer die
Eigenleistung der Kinder oder der Jugendlichen, Zeit und Kraft in ihre Bildung
zu investieren. Neu wird Thomas nun auch die Möglichkeit haben, mit einem Fond
aus Affoltern am Albis motivierten Jugendlichen bei der Finanzierung einer beruflichen
Weiterbildung zu helfen. Schon seit einigen Jahren bezahlt ABC ausserdem das Schulgeld für Kinder mit
Behinderungen, damit auch sie die nötige Förderung erhalten und schliesslich
gibt ABC Familien mit guten Projekten Kleinkredite. ABC führt keine eigenen
Schulen und die eigentliche Arbeit machen die Kinder oder Jugendlichen selbst.
Dennoch steht und fällt die unterstützende Arbeit von ABC mit dem Einsatz von
Thomas Müller. Er knüpft die Beziehungen, er kennt die Örtlichkeiten und
klärt ab oder entscheidet, wer welche Hilfe von ABC erhält. Mit auf seinen
Touren ist immer eine Mitarbeiterin aus dem Quartier. Sie kennt die
Menschen und die Gassen und hält in einem Buch alle Abmachungen fest.
Zudem führt sie die Arbeit weiter, die Thomas eingefädelt hat. Solange
Thomas diese Arbeit machen kann und will, ist sie ein Segen für die Menschen und eine Nachhaltige
Hilfe. Sie eröffnet jungen Menschen mit Eigeninitiative, die in prekären
Verhältnissen aufwachsen, die Chance, einen Weg aus der Armut zu finden.
Als kleines Abschlussprojekt unserer Bildungsreise organisieren Susanna und ich für die Kinder im
Armenviertel Siloé zusammen mit dem von Studenten geführten Centro Cultural
einen Zeichnungswettbewerb. Mehr Kinder sollen dadurch die gute Einrichtung des
Centro mit Bibliothek und vielen Angeboten in der Ferienzeit
kennenlernen. Wir rechnen mit 150 Kindern. Jedes Kind, das am Wettbewerb teilnimmt,
soll als Geschenk einen Schulkit mit Heftern, Farbstiften,
Bleistiften, Gummi und Spitzer erhalten. Die zusätzlich prämierten Zeichnungen
werden mit einem weiteren Geschenk honoriert. Es gibt Rücksäcke, Fussbälle
und anderes mehr.
Zuerst müssen wir genügend Papier und Farben für das Zeichnen einkaufen. Die Kinder sollen
zwischen Plakatfarben und Farbstiften wählen können. Dann wandern wir mit
Handzetteln durch die engen und oft steilen Wege von Hütte zu Hütte und laden
für den Wettbewerb ein. An drei Nachmittagen kommen je ca. 50 Kinder ins
Zentrum, um ihre Eindrücke über das Leben in Siloé auf ein Papier zu bringen.
Alle werden anschliessend für den Sonntag zu einem Fest mit Prämierung eingeladen.
Am Fest können die Eltern und Geschwister die Bilder bewundern und die
Kinder erhalten ihre Geschenke und Prämien. Alles bekommt durch die Mitarbeit
der Studenten ein kolumbianisches Gepräge, wir würden sagen "es bits Handglismet".
Die Stimmung ist ausgezeichnet und es wird getanzt und gespielt bis in den Abend
hinein. Die Kinder freuen sich über die Geschenke und die Studenten über das
Leben in ihrem Centro.
Wir haben die Reise mit einem "Fiesta de manera caótica"
im Kirchgemeindehaus in Affoltern am Albis begonnen
und schliessen unsere Zeit in Lateinamerika mit einem "Fiesta de manera caótica"
im Centro Cultural in Siloé ab.
Das heisst, genau genommen liegt vor uns noch eine letzte Woche, in der wir eine kleine Reise an
die Pazifikküste Kolumbiens unternehmen wollen.
In Cali
leben wir in einem
einfachen Quartier, in dem es eigentlich
keine Unterkünfte für Touristen gibt. Die Wohnung gehört Thomas und wird von
seinen Schwägerinnen Erne und Osneis bewohnt. Erne mit ihrer bald zwei Jahre
alten Tochter Zharick und Osneis sind uns gute Gastgeber und wir können unser
noch immer lückenhaftes Spanisch oft einsetzten. Jedes Mal, wenn wir im Taxi als Ziel "Chiminango 2"
angeben, fragt der Fahrer erstaunt nach, ob er richtig verstanden habe. Im Quartier
sind wir echte "Monos", was eigentlich "Affe" bedeutet, in
Kolumbien aber liebevoll für hellhaarige Europäer verwendet wird. Wir sind
also hier echte Exoten und ziehen viele Blicke auf uns. Selten verlieren
sich Touristen in diesem Quartier. So erleben wir die gewöhnlichen Menschen von
Cali, wie sie ihr alltägliches Leben gestalten und Beziehungen leben. Die Kolumbianer von Cali sind freundlich,
arbeitsam, lebensfroh und
rücksichtslos zugleich. Fast jede Nacht dröhnt aus irgend einer Ecke im
Quartier bis weit in den Morgen hinein Musik. Die Feiernden singen oder kreischen dazu und so erhalten alle im Quartier ihren Anteil an der Festfreude
egal, ob sie wollen oder nicht. Niemand ausser uns scheint diese
Nachtruhestörung als Störung zu empfinden. Das Reisen in der Stadt mit den
vielen kleinen und grossen Bussen und den ebenso vielen Busgesellschaften wie
auch mit den Geländewagen, die vollgestopft in die Armenviertel fahren, ist ohne
vernünftigen Plan, den es ohnehin nicht gibt, ein echtes Kunststück und ein Erlebnis für sich.
In
der letzten Woche zieht es uns aber noch einmal aufs Land und ans Meer. Wir
packen also ein weiteres Mal die Rucksäcke und reisen zum Lago Calima nach
Daríen. Ausser der exotischeren Vegetation gleicht die Landschaft der Gegend um
den Zugersee, nur ist es immer Sommer. Zufälligerweise feiert die Gemeinde
gerade ein Fest und verschiedene Volkstanzgruppen führen ihre Tänze auf.
Indianische, afrikanische und spanische Einflüsse geben dem festlichen Anlass
sein unverkennbares lateinamerikanisches Gepräge.
Von Daríen aus geht die Reise weiter an die Pazifikküste nach Buenaventura.
Diese Küstenstadt benützen wir nur als Umsteigeort. Ein Boot löst den Bus ab
und bringt uns zum Fischerdörfchen Juanchaco, welches mehrere wunderschöne
Strände und einen dichten mit kleinen Flüssen
durchzogenen Urwald zu bieten hat. Hier ernähren wir uns von Fisch,
geniessen den Strand, lassen uns lautlos durch den Urwald zu idyllischen von der
Natur geformten Badebecken mit Wasserfällen führen und zudem kommen wir gerade
richtig, um die Buckelwale zu beobachten, die sich hier von August bis Oktober
nahe der Küste tummeln.
Beim beobachten der Flugformationen der Pelikanzüge
wandern unsre Gedanken zu unserem Heimflug und auch die Walmutter scheint uns
zum Abschied zu winken. Obwohl wir diese Woche noch richtig geniessen merken
wir, dass es nach fast sechs Monaten Zeit wird, nach Hause zu gehen.
Wieder in Cali kochen Osneis und Erne für uns ein feines kolumbianisches
Abendessen. Fisch mit Kokosnussreis und frittierten Kochbananen. Die noch nicht
ganz zwei Jährige Zharick lässt uns nicht gerne los aber das Zuhause ruft und
auch die Arbeit. Am 20. August machen wir uns mit gepackten Koffern auf und fliegen den langen Weg zurück. Dass die Zollbeamten uns mit "Grüezi"
begrüssen, kommt uns etwas spanisch vor. Erst als wir unsere Lieben in die Arme
schliessen konnten, merkte ich, was für mich "Zuhause
sein" bedeutet.
Wir sind also wieder zuhause. Der Alltag holt uns überraschend
schnell ein und die Arbeit im Pfarramt erlaubt mir in den ersten Wochen kaum,
die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten. In den inneren Bereichen aber, auf
die wir wenig Einfluss haben, setzten sich Prozesse des Verdauens in Gang und
die Frage vieler Menschen, ob wir uns schon wieder gut eingelebt hätten, haben
dem Prozess der Verarbeitung zusätzlich Impulse gegeben. Wie erkläre ich möglichst
verständlich, was in mir vorgeht und wie sich das Ankommen in der vertrauten
Heimat nach der langen Zeit in der Fremde anfühlt? Eins ist mir bald klar, ich
bin nicht mehr derselbe. Die Erfahrungen und Eindrücke haben mich verändert.
Nicht umgekrempelt aber doch an entscheidenden Stellen verändert. Damit ich
diese Veränderung in narrativer Form beschreiben kann, kommt mir die Geschichte
des Zöllners Zachäus entgegen.
Nicht weil ich mich als Kollaborateur mit den Mächtigen und Reichen betrachte,
vielmehr, weil Zachäus in der Begegnung mit Jesus eine Veränderung erlebt
hatte, die den Umgang mit seinem Besitz betrafen wie auch die Möglichkeiten
seiner beruflichen Stellung.
Der
in Jericho lebende Zöllner Zachäus hatte von Jesus dem charismatischen
Prediger und Heiler gehört. Er wollte dessen Einzug in der Stadt Jericho nicht
verpassen. Was er über Jesus erfahren hatte, weckte seine Neugier. Als kleiner
Mann, der sich aber nicht so leicht kleinkriegen lässt, kletterte er auf einen
Baum, um die Ereignisse über die Menschenmenge hinweg ungestört beobachten zu
können. Als Jesus dann durch die Gassen von Jericho zog, entdeckte er den Zöllner
Zachäus auf dem Baum. Er nannte ihn bei seinem Namen und lud sich bei ihm ein,
was diesen ungemein freute. Wir wissen nicht, was die beiden am Tisch beim
Abendessen alles miteinander verhandelten. Wir wissen nur, dass Jesus bei seiner
Kritik an den Reichen Ausbeutung von armen Menschen und Anhäufung von Besitz
mit deutlichen Worten an den Pranger stellte und dass Zachäus noch am selben
Abend eine Veränderung erlebte. Er fand zu einem neuen Umgang mit seinem Besitz
und seiner Stellung als Zöllner. Dies nicht weil Jesus sein Verhalten
verurteilte, das taten ja viele andere schon vor ihm, vielmehr weil Jesus im Zöllner
nicht den Kollaborateur sah sondern ein Kind Gottes, welches wertvoll genug war,
um mit ihm Tischgemeinschaft zu pflegen.
Die Schritte des Zachäus von der Neugier über die
Beobachtung zu der verändernden Gemeinschaft sind dieselben, die ich im
Bildungsurlaub erlebt habe. Thomas Müller
brachte mir vor dem Urlaub die Menschen von Lateinamerika durch seine Erzählungen
und Berichte über die Arbeit in der kolumbianischen Millionenstadt Cali näher
und er weckte in mir die Neugier, diesen Kulturkreis mit seinen Menschen
kennenzulernen.
In den ersten Tagen in Costa Rica besuchten wir eine
Sprachschule. Zur Schule gehörte auch ein touristisches Animationszentrum, um
uns die Freizeit zu verschönern. Jeden Nachmittag und auch an den Wochenenden
konnten wir an den Aktivitäten teilnehmen. Dabei blieben wir in der Rolle des
beobachtenden Touristen. Wir sahen viele schöne Dinge des Landes, welche weder
unsere Lehrerinnen noch die Familie, bei der wir wohnten, je besuchen konnten.
Gerade diese Erfahrung führte uns auf den Boden der Realität der einfachen
Menschen, die im Dörfchen Dominicalito leben. Sie luden uns ein, bei ihnen am
Tisch oder am Boden zu sitzen, um an ihrem Leben Anteil zu nehmen beim Feiern
von Geburtstagen genauso wie bei den Sorgen um das hohe Fieber eines Kindes. Sie
luden uns ein, mit ihnen Krebse oder Meeresschnecken zu fangen, um sie dann
gemeinsam beim Abendessen zu geniessen. Sie luden uns ein, von uns zu erzählen,
unser Leben einzubringen und mit ihnen zu singen. All diesen Einladungen konnten
und wollten wir uns nicht entziehen. Wir verliessen mehr und mehr die
Beobachtungsstationen und fingen an, mit den Menschen Leben zu teilen und dieses
Teilen ist wohl die Ursache für die Veränderungen, die ich in mir wachsen spüre.
Die Option für die Armen, wie sie die lateinamerikanische Theologie ins
theologische Denken einbringt, war mir auch vor der Reise nicht fremd. Die
Kritik an den Reichen hingegen, musste ich doch neu in mein Denken einbeziehen.
Nicht in der Billigversion „die Armen sind die Guten und die Reichen sind die
Bösen“, vielmehr in einer hoffnungsvollen Weise, die besagt, dass bei Gott
auch das unmögliche möglich ist und somit selbst ein Reicher den Weg ins
Himmelreich finden kann.
Als Pfarrer in der Schweiz gehöre ich zu den Reichen in dieser Welt, obwohl ich
weder betrüge noch Besitz anhäufe. Dennoch muss ich mir in einer
globalisierten Gesellschaft die Frage nach der sozialen Verantwortung und dem
verantwortungsvollen Umgang mit meinem Besitz gefallen lassen und dies gerade in
meiner besonderen Stellung als Diener am Wort Gottes und Mitarbeiter in der
christlichen Kirche. Deshalb folgt hier eine Auslegung eines neutestamentlichen
Textes, bei der ich versuche, die Theologie, welche ich im Kontext der
lateinamerikanischen Kirchen erfahren habe, mit einzubeziehen.
Matthäus sagt uns in der Bergpredigt, wir sollten
vollkommen sein, wie der himmlische Vater vollkommen ist.Er beschreibt dies mit unmissverständlichen Worten. Im Gottesreich
herrscht eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit und in einigen Gleichnissen
wird diese bessere Gerechtigkeit verständlich gemacht. So im Gleichnis von den
Arbeitern im Weinberg. Dieses Gleichnis, welches ein Vergehen gegen jede
menschliche Rechtsordnung sei, wie ein Theologe in einer Auslegung im
vergangenen Jahrhundert schrieb,
dieses Gleichnis will ich als Wegweisung für eine menschliche Rechtsordnung
betrachten.
1
Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsherrn, der am frühen Morgen
ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. 2 Nachdem er sich mit den Arbeitern auf einen
Denar für den Tag geeinigt hatte, schickte er sie in seinen Weinberg. 3
Als er um die dritte Stunde ausging, sah er andere ohne Arbeit auf dem
Marktplatz stehen, 4
und er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in den Weinberg, und was recht ist, will
ich euch geben. 5 Sie
gingen hin. Wiederum ging er aus um die sechste und neunte Stunde und tat
dasselbe.
6
Als er um die elfte Stunde ausging, fand er andere dastehen, und er sagte zu
ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag hier, ohne zu arbeiten? 7
Sie sagten zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sagte zu ihnen: Geht auch
ihr in den Weinberg!
8
Es wurde Abend und der Herr des Weinbergs sagte zu seinem Verwalter: Ruf die
Arbeiter und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den Letzten bis zu den
Ersten.
9
Und als die von der elften Stunde kamen, erhielten sie jeder einen Denar.
10 Als
aber die Ersten kamen, meinten sie, dass sie mehr erhalten würden; und auch sie
erhielten jeder einen Denar. 11
Als sie ihn erhalten hatten, beschwerten sie sich beim Gutsherrn 12
und sagten: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns
gleichgestellt, die wir die Last des Tages und die Hitze ertragen haben. 13
Er aber entgegnete einem von ihnen: Freund, ich tue dir nicht unrecht.
Hast du dich nicht mit mir auf einen Denar geeinigt? 14
Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten gleich viel geben wie
dir. 15 Oder ist es
mir etwa nicht erlaubt, mit dem, was mein ist, zu tun, was ich will? Regt sich
Neid in dir, weil ich gütig bin?
(16
So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte.)
„Mit dem Himmelreich ist es wie ...“, so beginnt der
Abschnitt, mit dem ich mich hier befassen will und der Text zeigt sich damit als
ein Gleichnis oder eine Parabel
zum Himmelreich. Den Vers 16 will ich nicht mehr zur Parabel zählen, er erweist
sich durch die Wiederaufnahme des Gedankens aus Matthäus 19,30
als Klammer des Evangelisten, welche aufzeigen will, in welchen Zusammenhang er
die Parabel stellt. Denn Gleichnisse sind Verstehenshilfen. Wie soll man auch
anders über das Himmlische sprechen als mit Bildern und Erfahrungen des
irdischen Alltags. Zurzeit Jesu war das erzählen von Gleichnissen ein übliches
Mittel der Rabbiner. In ihren Lehrreden und Auslegungen der heiligen Schriften
benutzten sie dieses didaktische Mittel, um eine Aussage oder einen
theologischen Sachverhalt zu verdeutlichen oder zu erklären. Mit Hilfe von
Gleichnissen liess sich so mancher schwer verständliche Sachverhalt anschaulich
darstellen. Hier ein Beispiel dazu aus der rabbinischen Tradition.
Situation
Rabbi Bun ein gottesfürchtiger und fleissiger junger
Lehrer starb mit 28 Jahren. Rabbi Ze’ira hatte die Aufgabe, für seinen
verstorbenen Kollegen die Trauerrede zu halten. An diesem Anlass nahmen viele
vom frühen Tod des Lehrers betroffene Schüler mit all ihren Fragen teil. Rabbi
Ze’ira erklärte den frühen Tod seines Kollegen mit dem Gedanken, dass Gott
ihn gerade wegen seines fleissigen Arbeitens und seiner Frömmigkeit zu sich
geholt hat und dass dies nichts mit Recht und Unrecht oder verdient und
unverdient zu tun hat. Um diesen Gedanken zu veranschaulichen erzählt Rabbi
Ze’ira folgende Parabel:
Parabel
Mit wem ist Rabbi Bun zu vergleichen?
Mit einem König, der mehrere Arbeiter einstellte.
Unter ihnen befand sich ein Arbeiter, der besonders eifrig
war. Was tat der König? Er nahm diesen Arbeiter und machte mit ihm lange und
kurze Spaziergänge.
Am Abend kamen die Arbeiter, um ihren Lohn zu empfangen,
und der König gab auch diesem besonderen Arbeiter wie den anderen den vollen
Tageslohn.
Da murrten die Arbeiter und sagten: Wir haben den ganzen
Tag schwer gearbeitet, und dieser hat nur zwei Sunden gearbeitet, und bekam
trotzdem denselben vollen Lohn wie wir.
Darauf entgegnete der König: Dieser hat in den zwei
Stunden mehr geleistet als ihr mit der schweren Arbeit den ganzen Tag lang.
Der springende Punkt
Rabbi Ze’ira will den Schülern mit dem Gleichnis eine
Antwort darauf geben, weshalb sein Kollege trotz gerechtem und gottesfürchtigem
Leben so früh sterben musste. Er will aufzeigen, dass sich unser Sinn für
Gerechtigkeit nicht auf Gottes gerechtes Handeln übertragen lässt. Durch das
Gleichnis erfassen die Schüler in ihrer Frage nach dem „warum“ und dem Gefühl
von Unrecht ein menschliches Grundmodell: Der Mensch arbeitet nur, wenn er dafür
Lohn bekommt. Wenn sie dieses Modell nun auf Gott übertragen, ist es klar, dass
der Mensch als Lohn für seinen Fleiss und sein gottesfürchtiges Handeln als
Lohn auch ein langes Leben erhalten sollte. Das Modell von Arbeit und verdientem
Lohn hält aber nicht einmal der genauen Prüfung innerhalb der irdischen Welt
statt. Viele Menschen leisten aus Leidenschaft oder Pflichtbewusstsein viel
Arbeit, ohne dafür einen Lohn zu erwarten. Und bei Gott sieht dieser
Sachverhalt nochmals anders aus. Ihm sei nicht wichtig wie lange und wie viel
jemand gearbeitet hat, meint Rabbi Ze’ira, ihm sei wichtig, dass der Mensch
von ganzem Herzen in seinem Dienst stehe, denn im Himmel erhielten alle
gleichviel Lohn.
Der Sachverhalt, dass Rabbi Bun in den 28 Jahren mehr
geleistet haben soll als alle andern Lehrer, dient hier als tröstender Gedanke.
Der springende Punkt liegt also meines Erachtens im
Erhalten des gleichen Lohns für ungleiche Arbeit und damit im Sprengen der
menschlichen Verknüpfung von Arbeit und Lohn. So hat der frühe Tod des Rabbi
Bun nichts mit Recht und Unrecht oder verdient und unverdient zu tun und die
Frage nach dem „Warum“ erübrigt sich.
Mit diesem Beispiel der konkreten Verwendung von
Gleichnissen oder Parabeln in der rabbinischen Tradition will ich verdeutlichen,
dass es zum Verständnis eines Gleichnisses unabdingbar ist, den Anlass zu
kennen, der zur Verwendung der Parabel geführt hat. Es ist hilfreich, wenn ich
die Umstände kenne und erfasse, wer, wem, was verdeutlichen wollte. Ändern
sich diese Umstände, springt nicht selten der Punkt eines Gleichnisses an einen
anderen Ort. Das darf durchaus sein, die Geschichten können so in veränderten
Umständen neue Sinnzusammenhänge generieren und gerade dies gehört zum
inneren Reichtum der Gleichnisse. Nur sollte dieser Sachverhalt dem Interpreten
alter Texte bewusst sein.
Matthäus stellt unser Gleichnis in einen eschatologischen
Rahmen. Die Adressaten sind die Christen der noch jungen Gemeinde. Obwohl
sich die Wiederkunft des Messias verzögert, stehen die Gläubigen noch fest in
der Naherwartung des kommenden Weltgerichts, an dem Jesus als Richter Lohn und
Strafe verteilt. Die Gläubigen erwarten einen Lohn für ihre Treue auch in
Zeiten der Verfolgung und grossem Verzicht. Da immer noch neue Glieder zur
Gemeinde stossen, stellt sich die Frage, wie das nun sein wird mit dem
himmlischen Lohn. Was erhalten diejenigen, welche als Erste ihr Leben in den
Dienst der Gemeinde gestellt haben und was ist mit jenen, die erste gerade vor
kurzem zur Gemeinde gestossen sind. Matthäus führt als guter Didaktiker diese
Fragestellung mit einer Frage des Jüngers Petrus ein. Folgende Perikope geht
dem Gleichnis unmittelbar voraus:
Matthäus
19:27 Da wandte sich Petrus an ihn und sagte: Wir hier haben alles
verlassen und sind dir gefolgt. Was wird mit uns werden? 28
Jesus sagte zu ihnen: Amen, ich sage euch: Ihr, die ihr mir gefolgt seid,
werdet bei der Neuschöpfung, wenn der Menschensohn sich auf den Thron seiner
Herrlichkeit setzt, auch auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme
Israels richten. 29
Und jeder, der um meines Namens willen Häuser, Brüder, Schwestern, Vater,
Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird hundertfach empfangen und ewiges
Leben erben. 30 Viele
Erste aber werden Letzte sein und Letzte Erste.
Indem der Evangelist das Gleichnis mit dem Satz „So
werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte“ abschliesst, zeigt er
deutlich, dass er mit der Parabel die Lohnfrage im Endgericht verdeutlichen
will. Dies im Zusammenhang mit dem von Jesus mehrfach überlieferten Gedanken,
dass die Ersten Letzte sein werden und die Letzten Erste.
Wie schon im rabbinischen Gleichnis wird auch hier
verdeutlicht: Beim himmlischen Lohn kommt es nicht auf die Arbeitsstunden oder
Arbeitsleistungen an. Der springende Punkt liegt im Sprengen des menschlichen
Musters von Leistung und Lohn. Der Himmel lässt sich nicht verdienen. Entscheidend
ist allein die Nachfolge, was bei Matthäus heisst, radikal alles verlassen und
sich in den Dienst Jesu stellen. Die immer noch in der Naherwartung des
Gerichtes stehenden Gläubigen erfassten durch dieses Gleichnis, dass die
menschlichen Massstäbe von Leistung und Lohn im Zusammenhang des Endgerichts
nicht angewendet werden können. Wer schon lange in der Nachfolge lebt wird im
Himmel nicht mehr Lohn erhalten als der, der sich eben erst taufen liess und
auch die verschiedenen Dienste machen keine Unterschiede. Bei der Auszahlung am
Ende des jetzigen Zeitalters wird allein wichtig sein, ob man in einem
Dienstverhältnis zu Gott gestanden hat oder nicht. Neid oder Berechnung sind
hier fehl am Platz. „Freut euch doch über die unermessliche Güte Gottes, die
auch zu dieser Stunde noch Mensche in Gottes Weinberg ruft“, scheint Matthäus
den Gläubigen sagen zu wollen.
Ob Jesus dieses Gleichnis erzählt hat, lässt sich nicht
mehr mit Sicherheit sagen. Diese Parabel fehlt bei den restlichen Synoptikern.
Weil aber gerade die Gleichnisse zum Himmelreich zum Urgestein christlicher Überlieferung
gehören, gehe ich davon aus, dass Jesus dieses Gleichnis erzählt hat, wenn
auch nicht in dem von Matthäus verwendeten eschatologischen Rahmen. Die das
Gespräch der Jünger über den himmlischen Lohn einleitende Perikope, könnte
uns auf die Spur des ursprünglichen Sinnzusammenhangs führen. Hier die kleine
Geschichte:
Matthäus 19:16 Da kam einer zu ihm und sagte: Meister, was muss ich
Gutes tun, um ewiges Leben zu erlangen? 17 Er sagte zu ihm: Was fragst du mich nach dem
Guten? Einer ist der Gute. Willst du aber ins Leben eingehen, so halte die
Gebote. 18 Da
sagte er zu ihm: Welche? Jesus sagte: Du sollst nicht töten, du sollst nicht
ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen, 19
ehre Vater und Mutter und: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. 20
Da sagte der junge Mann zu ihm: Das alles habe ich befolgt. Was fehlt mir noch? 21
Da sagte Jesus zu ihm: Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe deinen Besitz
und gib ihn den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm und
folge mir! 22
Als der junge Mann das hörte, ging er traurig fort, denn er hatte viele Güter.
23
Jesus aber sagte zu seinen Jüngern: Amen, ich sage euch: Ein Reicher wird nur
schwer ins Himmelreich kommen. 24 Weiter sage ich euch: Eher geht ein Kamel
durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Reich Gottes. 25 Als die Jünger das hörten,
waren sie bestürzt und sagten: Wer kann dann gerettet werden? 26
Jesus blickte sie an und sprach: Bei Menschen ist das unmöglich, bei Gott aber
ist alles möglich!
Die Adressaten des Gleichnisses, als Jesus es erzählte, könnten
demnach die Armen sein, die sich Jesus angeschlossen hatten. Die Jüngerinnen
und Jünger machten wohl die Erfahrung, dass nur selten Reiche den Zugang zu
ihrer Gemeinschaft finden konnten. Jesus verdeutlicht mit dem Gleichnis, weshalb
das so ist. Weil Jesus hier in die soziale Situation der Menschen seiner Zeit
hineinspricht, ist es unumgänglich, diese hier kurz zu beschreiben.
In Palästina herrschte zurzeit Jesu ein Klassensystem. An
der Spitze der Macht standen Könige oder Kaiser, Grossgrundbesitzer und
Tempelvorsteher. Die mittlere Klasse bildeten kleinere Beamte, Pächter,
Handwerker und Priester. Zur untersten Schicht gehörten staatliche
Lohnarbeiter, Taglöhner und Sklaven. Dieses System wurde mit Militärgewalt
durch die römischen Besatzer gestützt und durch die Ausbeutung der unteren
Schichten mit horrenden Abgaben und Fronarbeit sowie die Privilegien der
Obersten Schicht zementiert. Wenn nun der Gutsherr in unserem Gleichnis allen
Arbeitern einen Denar gibt, dann gibt er ihnen als Tageslohn etwas mehr als ein
Soldat als Sold erhält. Üblich war für die Taglöhner ½ bis höchstens 1
Denar. Mit einem Denar konnte der Arbeiter für eine Familie Unterkunft und
Verpflegung für einen Tag erwerben. Für einen Denar erhielt man 8
Hauptmahlzeiten oder 4,5 l Wein. Für drei Denare konnte ein Arbeiter in Rom ein
kleines Zimmer für einen Monat mieten.
Die Taglöhner im Gleichnis erhielten also alle, was sie
zum Leben für einen Tag benötigten. Nicht mehr und nicht weniger. Hier liegt
der springende Punkt beim überraschenden Verhalten des Gutsherrn. Jesus hilft
seinen Jüngerinnen und Jüngern zu verstehen, weshalb es den Reichen so schwer
fällt, in seine Nachfolge zu treten. Jeder versteht, dass es für die Reichen
schwierig ist, grossherzig mit ihrem Gut umzugehen. Aber es liegt im Bereich des
Möglichen. Gerade das Beispiel des Zachäus
zeigt, dass ein Reicher sich im Sinne Gottes wandeln kann. Ausserdem sagt Jesus
den ihm zugewandten Armen mit dieser Parabel, dass im Himmelreich jeder Mensch
das erhalten müsste, was er benötigt, um zu leben.
Bisher habe ich in
dem Gleichnis der Arbeiter im Weinberg vor allem die Güte Gottes gesehen. Gott
ist gütig und gegenüber seinem freien gütigen Handeln verblassen alle
menschlichen Massstäbe. Gott gibt jedem das, was er zum Leben braucht, nicht
mehr und nicht weniger. Gott gibt unabhängig von einer erbrachten Leistung. Das
wesentliche, das uns ausmacht, ist Geschenk, ist gratis. Und jedem Menschen
steht unabhängig von einer Leistung der Zugang zu dem zu, was er zum Leben nötig
hat.
Die Welt, in der
wir leben, sieht aber anders aus und das eröffnet einen weiteren
Sinnzusammenhang des Gleichnisses. Ich will es deshalb im Blick auf den Welternährungstag
vom 16. Oktober 2007 betrachten. Hier einige Stimmen aus den Nachrichten.
Welternährungstag 2007 und das
Werk der Gerechtigkeit
Die
Uno fordert einen verstärkten Kampf gegen
Hunger. Die heutigen Ressourcen an Nahrung reichen für die gesamte
Weltbevölkerung. Zudem schwimmt die Welt in Geld wie noch nie zuvor. Dennoch
stirbt alle 5 Sekunden ein Kind an den Folgen von Unterernährung.
Die steigende
Nachfrage für Treibstoff aus Biomasse, lässt die Preise für
Grundnahrungsmittel steigen. Die arme Bevölkerung kann sich die tägliche
Nahrung nicht mehr leisten.
„Wo es Hunger
und Unterernährung gibt, gibt es keine Gerechtigkeit und keine Sicherheit,“
erklärt die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, am Welternährungstag
2007.
In diese Zusammenhänge
hinein, lasse ich Jesaja sprechen:
Und das Werk der
Gerechtigkeit wird Friede sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und
Sicherheit für immer.
Jesaja 32, 17
Genau betrachtet
leben wir auch heute noch in einer Klassengesellschaft. Und obwohl die
neoliberal geprägten Wirtschaftsmächte Wohlstand für alle versprechen,
treiben sie Millionen von Menschen in bittere Armut. Der Markt steuert sich
selbst, da bin ich mit den liberal denkenden Politikern einverstanden, aber der
Markt hat kein Gewissen. Ihm ist es egal, wenn an den Rändern der Grossstädte
in den Armensiedlungen Kinder verhungern. Ihm ist es egal, wenn in Zeiten der
Krise Tausende von Familien Arbeit und Obdach verlieren. Und wirklich frei ist
der globalisierte Markt genau betrachtet nicht. Während die reichen Länder
ihre Wirtschaft mit Schutzzöllen schützen, fordern sie von den verschuldeten Ländern
den Abbau von Handelshemmnissen, um damit ihre Ressourcen besser ausbeuten zu können.
In Wirklichkeit untermauert das herrschende System die Machtposition der
Reichen, die sich nur noch mit Militärgewalt gegen das Heer der Armen wehren können.
Die Spaltung des Mittelstandes in Gewinner und Verlierer, die vielerorts schon
weit fortgeschritten ist, wird bei gleichbleibenden Regelmechanismen auch die
reichen Länder treffen, mit all seinen verheerenden Folgen.
Im Zusammenhang
mit Hunger kann man nicht von einer Gerechtigkeit sprechen, die für gleiche
Arbeit gleichen Lohn verlangt. In einer Gesellschaft, in welcher der Mensch, um
zu überleben, Geld benötigt, muss jedem Menschen soviel Geld zur Verfügung
stehen, wie er zu einem menschenwürdigen Überleben nötig hat unabhängig von
seiner Leistung auf dem Arbeitsmarkt. Niemand würde heute einem Mitmenschen die
Luft streitig machen, nur weil er keiner Erwerbsarbeit nachgeht egal aus welchen
Gründen. Das Modell, welches Lohn und Erwerbsarbeit untrennbar verknüpft, hat
eben auch seine höchst ungerechte Seite.
Das Gleichnis von
den Arbeitern im Weinberg ist in diesem Zusammenhang eine Aufforderung an alle
Reichen, ihren Besitz verantwortungsvoll und mit sozialem Gewissen so
einzusetzen, dass die Armen zu dem kommen, was sie zum Leben nötig haben. Der
Gutsherr im Gleichnis verschleudert seinen Besitz nicht. Er häuft auch nicht
Besitz an. Er dient mit dem, was ihm anvertraut ist, dem Leben. So ist es mit
dem Gottesreich in dieser Welt. Uns so springt der springende Punkt des
Gleichnisses noch einmal an einen anderen Ort. Er liegt im verantwortlichen
Umgang des Gutsherrn mit dem ihm von Gott anvertrauten Gut.
„Und das Werk
der Gerechtigkeit wird Friede sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und
Sicherheit für immer. Und mein Volk
wird an der Wohnstätte des Friedens weilen, an sicheren Orten und sorgenfreien
Ruheplätzen.“
Jesaja 32, 17 und
18

Matthäus 5, 43 –
48: Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst deinen Nächsten lieben
und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für
die, die euch verfolgen, so werdet ihr Söhne und Töchter eures Vaters im
Himmel; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt
regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr die liebt, die euch lieben,
welchen Lohn könnt ihr da erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und
wenn ihr nur eure Brüder grüsst, was tut ihr da Besonderes? Tun das nicht
auch die Heiden? Ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater
vollkommen ist.
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